Parallaxe

2016, Exhibition Schreygasse 9, 1020 Wien

Eine Linie kann alles verändern: sie initiiert dort, wo nichts war, den Beginn von etwas, oder dessen Ende; sie fungiert als Trennung, als Leitlinie, als Unterbrechung der Leere oder als Verbindung zwischen zwei Punkten. Mit anderen Linien rechtwinkelig gekreuzt ergibt sie ein Raster, Gitter oder Netz („Grid“), das zugleich trennt und vereint, sich zur Ordnung, Orientierung, Vermessung, Begrenzung oder Regulierung generiert, als Verbindung, Verknüpfung, Umschließung, feinmaschig oder lose, transparent oder undurchdringlich – als Netzwerk oder als Barriere. Die Linie ist zugleich flach und plastisch, sie umschließt eine Fläche und öffnet einen Raum, suggeriert eine Schattenlinie, eine Faltung, eine Umstülpung („Fold“) und erzeugt eine räumliche Illusion am Papier.
Die Vorstellung dessen, was „davor“ oder „dahinter“ liegt, leitet der Mensch aus dem Gesehenen mit seinem räumlichen Vorstellungsvermögen ab, aus Dimension, Anordnung, Überschneidung und Staffelung, Hell/Dunkel- und Farbkontrasten.

In seinen Arbeitszyklen Grid, Fold und Re-Render lotet Jürgen Bauer unterschiedliche Formen und Wahrnehmungsoptionen aus, durch die sich die flache Form (Acryl und Graphit auf Papier) in eine räumliche verwandelt und sich damit unmittelbar die Frage nach der „wahren“ Form bzw. der „richtigen“ Perspektive stellt.
Mit dem programmatischen Ausstellungstitel Parallaxe (altgriechisch parállaxis: „Veränderung, Hin- und Herbewegen“) verweist Jürgen Bauer dabei auf jenes optische Phänomen, das entsteht, „wenn ein Objekt von zwei verschiedenen Standorten aus betrachtet wird, und als scheinbare Verschiebung des Objekts vor dem Hintergrund zu beobachten ist.”1 ) Der Begriff der Perspektive (lateinisch perspicere: hindurchsehen, hindurchblicken) bezeichnet dabei nicht nur „den Eindruck des Räumlichen hervorrufende Form der (ebenen) Abbildung“ sondern auch eine „Betrachtungsweise oder -möglichkeit von einem bestimmten Standpunkt aus; Sicht, Blickwinkel” 2)

Ausgehend der Ambivalenz, die den Begriff des „Grid“ prägt wird klar, dass es dem Künstler um mehr als nur optische Phänomene geht: Das Raster nimmt einen allgegenwärtigen Stellenwert innerhalb der Ordnungs- und Organisationsprinzipien der menschlichen Gesellschaft (real und online) ein – Weltkarten, Stadtpläne, Stromnetze, neuronale oder digitale Netzwerke, Zäune, Absperrungen, Grenzen. Der Standpunkt, der sowohl vom Künstler als auch von den BetrachterInnen bezogen wird, ist nicht allein ein räumlicher, sondern ein inhaltlich aufgeladener, politischer und gesellschaftlicher Standpunkt, der gegebene Ordnungssysteme und Richtlinien in Frage stellt, diese wie uns selbst angreifbar macht und letztlich nach einer Möglichkeit sucht, die eigene Perspektive jeweils neu zu kontextualisieren.
Die Strukturen, die uns umgeben, in denen wir uns täglich bewegen sind längst im globalen Raster permanenter Vermessung und Vernetzung erfasst. In einer kontinuierlich kontrollierten und überwachten Welt sind alle unsere Bewegungen nachvollziehbar und transparent, unsere Kommunikation im Netzwerk eingeschrieben. Der Raster als zentrales Gestaltungssystem der Moderne zielt auf Vereinheitlichung und Reproduzierbarkeit ab, und bedeutet eine Einschränkung des Gestaltungsspielraumes, die sich sinnbildlich auf Gesellschaftssysteme und sozialpolitische Entwicklungen übertragen lässt. Das Netz wird engmaschiger und die Leerstellen immer kleiner: Irgendwann gibt es keinen Punkt, der nicht im Raster erfasst ist.

Während die kontinuierliche Einengung und damit verbundene Begrenzung von (Frei-)Raum an den Linien des Rasters festgemacht werden können, bleibt dennoch immer der Aspekt der Offenheit bestehen: Als Urform ist der Punkt das einfachste und kleinste Formelement, das wahrgenommen werden kann und zugleich die reduzierteste mögliche Form von räumlicher Wirkung. Ob etwas als Punkt wahrgenommen wird, hängt von der subjektiv empfundenen Kleinheit des Gesehenen ab. Wenn man nah genug in das „Grid“ hineinzoomt, gibt es einen Punkt, der sich beim Hindurchblicken durch das Raster in Unendlichkeit verwandeln kann.

Text: Marlies Wirth, Kuratorin MAK

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1 ) vgl. Duden, Definition „Parallaxe“
2 ) vgl. Duden, Definition „Perspektive“

Relevant Links:

https://en.wikipedia.org/wiki/Parallax

Photo: Björn Segschneider

Exhibition View, Parallaxe, Schreygasse 8 Vienna, March 2016

Jürgen-Bauer-Parallaxe

Exhibition View, Parallaxe, Schreygasse 8 Vienna, March 2016

Photo by Björn Segschneider

Exhibition view, Parallaxe, Schreygasse 8 Vienna, March 2016

Parallaxe_JB_04

Exhibitionview, 2016, Photo: Björn Segschneider

Grid (WhiteOut), 2016, 70x100 cm, Graphite & Acryl on Paper

Grid (WhiteOut), 2016, 70×100 cm, Graphite & Acryl on Paper, Photo: Björn Segschneider

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Exhibitionview, 2016, Photo: Björn Segschneider